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Reisebericht

28.09.2020

Martin Ruggle – Mit "Chocolate" um die Welt

Martin Ruggle plante ein Velo-Abenteuer in Richtung Osten. Mit Glück bis Bangkok, aber bis Istanbul musste es mindestens sein. Geworden ist es eine Weltreise von dreieinhalb Jahren und 58 000 Kilometern.

Im Livestream spricht Martin Ruggle exklusiv über seine Weltreise

Istanbul. Immer wieder schiesst der Name der türkischen Metropoledurch meinen Kopf, während der Regen in meinen Ohren rauscht. Istanbul muss es mindestens sein. Früher kann ich nicht zurückkehren, sonst stehe ich als Witzfigur da. Hätte ich doch vor der Abfahrt bloss nicht grosskotzig «Bangkok, und dann mal schauen» gesagt.

Eine Rückkehr ist undenkbar. Ich will mehr – es ist der Start in ein mehrjähriges Abenteuer.

Es ist einer dieser regnerischen Tage. Einer, an dem ich irgendwo kurz vor Linz – nach gerade einmal gut 500 Kilometern – alles in Frage stelle und beinahe aufgebe. Dabei hat die Reise noch nicht einmal richtig begonnen. Und dann treffe ich Tim und Tess, Radreisende aus England. Sie sind unterwegs nach Peking, und motivieren mich entscheidend an eben diesem Tag, dass ich wieder aufbreche. Gemeinsam durchqueren wir Osteuropa, campieren neben riesigen Maisfeldern, waschen uns in der grünen Donau und kämpfen uns durch den Strassenverkehr ins Zentrum von Istanbul. Eigentlich hätte ich nun nach Hause fahren können, doch habe ich den zuckersüssen Geschmack der Freiheit auf zwei Rädern gekostet. Eine Rückkehr ist undenkbar. Ich will mehr – es ist der Start in ein mehrjähriges Abenteuer.

Nach Unfall plötzlich berühmt

Die Scherben knirschen unter den Reifen, als ich Istanbul frühmorgens verlasse. Nur wenige Stunden zuvor stand sich hier das Militär den Zivilisten gegenüber und versuchte, die Regierung zu putschen. Aber bald klebt der erste Wüstensand auf «Chocolate», meinem schokoladenfarbenen Fahrrad. Lächelnde Menschen bieten mir immer wieder eine heisse Tasse Çay an; und ab sofort war Schlafen praktisch überall möglich: auf Feldern, in Stadtparks, Moscheen oder auch mal auf einer Verkehrsinsel. Das Leben ist einfacher, obwohl die Umgebung harscher und die Zivilisation bescheidener wird.

Mit leichten Verletzungen lande ich im Spital – und prompt in den iranischen Schlagzeilen.

Und dann kommt der Iran. In den Medien oft als Ort des Bösen dargestellt, schenkt mir der Iran seine gut asphaltierten Strassen und die Herzen seiner Bewohner. Täglich werde ich zum Übernachten eingeladen und mit mehrgängigen Menüs verwöhnt. Der Iran gibt mir das Gefühl, bei Freunden zu sein. Und dieses Gefühl verstärkt sich, als ich in der Wüste bei einem Ausflug einen Unfall habe. Mit leichten Verletzungen lande ich im Spital – und prompt in den iranischen Schlagzeilen. Von da an bin ich eine kleine nationale Berühmtheit, die mit ihrem braunen «Schokoladen»-Velo unterwegs ist. Egal wo ich hinkomme, die Menschen erkennen mich und wollen ein Selfie – ein Vorgeschmack für Indien, wo ich nach einem Zwischenstopp in Dubai hinfliege.

Bei bis zu 42 Grad holpern wir über die alte Küstenstrasse in Richtung Goa, tanken Kalorien an den Essensständen und schlafen in den Tempeln.

Ich bin froh, als der Dreck von Mumbai endlich durch dichtes, tropisches Grün ersetzt wird. Ich begegne Vijay, einem indischen Primarlehrer. Bei bis zu 42 Grad holpern wir über die alte Küstenstrasse in Richtung Goa, tanken Kalorien an den Essensständen und schlafen in den Tempeln. Mit vielen neuen Eindrücken fliege ich von Bangalore nach Bangkok. Die Stadt schläft noch, als der Flieger in der Morgendämmerung hart aufsetzt. Wieder bin ich an dem Punkt, an dem ich eigentlich hätte nach Hause gehen können. Eigentlich. In Kambodscha knacke ich die 10 000-Kilometer-Marke, fahre entlang von endlosen Reisfeldern weiter in die Berge von Laos und in das magische Myanmar. Tempeldächer aus Gold reflektieren die Abendsonne und glitzern wie Sterne in einer klaren Nacht. Ich muss mich jedoch beeilen, um dem nahenden Monsun zu entwischen. Noch einmal weht mein Radtrikot neben den orangen Roben der Mönche vor dem Tempel, bevor ich nach Vancouver fliege – so lange, bis der Osten zum Westen wird.

Die Gewalt hautnah miterlebt

Ich lasse die schneebedeckten Berge Kanadas hinter mir und überquere die Grenze in die USA. Ja, der Westen ist anders. Auf einmal ist es wieder schwieriger, einen Schlafplatz zu finden – und «Chocolate» wirkt winzig neben den riesigen Trucks. Kurz nach San Francisco erreiche ich die 20 000-Kilometer-Marke und feiere dies gleich am verrückten Wüstenfestival Burning Man. Auf endlos geraden Strassen durchquere ich die Wüste und den heissesten Ort der Welt: Death Valley. Ich fahre vorbei am Grand Canyon und erreiche schliesslich die Grenze Mexikos. «You better should carry a gun» (D: Du solltestbesser eine Waffe tragen), haben mir Männer mit Cowboyhüten und Trump-Aufklebern an den Stossstangen ihrer Pick-up-Trucks empfohlen.

Doch der Grenzbeamte lächelt freundlich und drückt den Stempel in den roten Pass. «Viel Spass – aber nicht zu viel» – was für eine Begrüssung! Entlang der Baja California fahre ich weiter nach Süden, campiere an einsamen Stränden und setzte mich schliesslich in La Paz auf ein Schiff, das nach Mazatlán in Mexikos Bundesstaat Sinaloa fährt. Mit knapp 5500 Metern Höhe ragt der Vulkan Popocatépetl weit aus dem Smog der Hauptstadt Mexikos und stösst eine grosse Aschenwolke in den blauen Himmel, als ich über den Paso de Cortés an ihm vorbeifahre. An meiner Seite fährt Christian, ein Veloreisender aus der Schweiz. Unter Palmen campieren wir an der Küste von Oaxaca, bevor uns die Strasse wieder steil zurück in die Berge nach San Cristóbal de las Casas führt.

Aber immer, wenn ich genau hinschaue, sehe ich auch die Schönheit inmitten der Gewalt.

In nur wenigen Wochen durchquere ich anschliessend Zentralamerika, um die dort herrschende Hitze und Gewalt möglichst zu umgehen. Doch auch in einem zügigen Tempo komme ich nicht vollends daran vorbei. In El Salvador erschiesst ein Polizist direkt vor mir einen Autofahrer. Und in Nicaragua muss ich über dutzende eingezeichnete Umrisse von getöteten Protestanten radeln, während verkohlte Gebäude links und rechts die Strassen säumen. Aber immer, wenn ich genau hinschaue, sehe ich auch die Schönheit inmitten der Gewalt. Wie zum Beispiel Randall, der für ein halbes Jahr in der Schweiz lebte und nun Schweizer Käse für sein kleines Dorf herstellt. Oder Valencia, die mir in ihrer kleinen Hütte in Honduras Obdach gibt und wahrscheinlich die schönste Frau Lateinamerikas ist. Und dann, auf der Grenzbrücke zwischen El Salvador und Honduras, fällt die 30 000-Kilometer-Marke.

Die schlimmste Panne für Veloreisende

Mit einem Boot, das den vertrauenserweckenden Namen Titanic trägt, überquere ich den Darién Gap nach Kolumbien. Die Anden liegen mir majestätisch zu Füssen und sollen mich nun für das nächste Jahr bis nach Ushuaia begleiten. Schnell wird die Strasse so steil, dass sie nur noch im Slalom zu bezwingen ist und immer näher komme ich den Wolken, bis ich selbst mittendrin bin. In waghalsigen Downhills, vorbei an steilen Felswänden und hohen Wasserfällen, geht es zurück ins Tal, wo der grüne Amazonas-Regenwald den Horizont verdeckt. In Ecuador bewältige ich mit Nick, ein Radreisender aus England, die wohl steilsten Strassen Südamerikas – vorbei am schneebedeckten Vulkan Chimborazo, während ein starker Wind Kieselsteine in unsere Gesichter fegt. Auf den teilweise über 5000 Metern hohen Pässen in Peru werden sämtliche auch noch so kleine Bewegungen zur Qual und das Fortbewegen unserer schweren Fahrräder fast unmöglich.

In Ecuador bewältige ich die wohl steilsten Strassen Südamerikas

Dazu kommt, dass uns das peruanische Essen gleich mehrfach ausser Gefecht setzt und wir so teilweise tagelang in kleinen Unterkünften ohne Strom verharren müssen. Und dann, als wir endlich etwas vorwärtskommen, passiert das, was während der Reise nie hätte passieren dürfen: Auf über 4500 Metern über Meer bricht der Rahmen von Chocolate. Ich bin am Ende. Und Chocolate auch. Was jetzt? Eigentlich hätte ich aufgeben können. Eigentlich. Aber einen Monat später verlasse ich das Dorf, um doch noch nach Ushuaia zu kommen – mit einem neuen, orangefarbenen Rahmen. Alleine, denn Nick ist schon längst weitergezogen, bezwinge ich die verbliebenen Berge der Anden, bis sich kurz vor Bolivien der Altiplano, die Hochebene auf gut 4000 Metern über Meer, vor mir erstreckt.

Nach Monaten anstrengender Passstrassen rolle ich mit meinem neuen Velo über den Salar de Uyuni, der grössten Salzpfanne der Welt. Um mich herum ist alles weiss und blendet die Augen, während eine kleine Linie auf dem GPS den Weg markiert. Tausende von Sternen funkeln am Himmel und Sternschnuppen ziehen durch die pechschwarze Nacht, als ich mitten auf dem Salar das Zelt aufschlage. Ein paar Tage später schiebe ich das Velo durchtiefen Sand über eine unsichtbare Linie. 40 000 Kilometer zeigt der kleine Tacho auf dem Lenker nun an.

Um mich herum ist alles weiss und blendet die Augen

Ein Ende über Umwege

In Argentinien wird die Wüste durch die Pampa abgelöst. Aber spätestens in Chile bin ich wieder umgeben von saftigem Grün und dichten Wäldern, während Chocolate 2.0 über das Waschbrett der «Carretera Austral» holpert, der wohl abgelegensten Strasse des Landes. Über mir glitzern die Gletscher, und Flüsse führen eiskaltes, türkisblaues Wasser durch die tiefen Schluchten der zahlreichen Fjorde.

Eigentlich ist es jetzt Zeit, nach Hause zugehen. Eigentlich.

Mit dem ersten Schnee erreiche ich fast drei Jahre und knapp 50 000 Kilometernach dem Start in der Schweiz die südlichste Stadt der Welt: Ushuaia. Eigentlich ist es jetzt Zeit, nach Hause zugehen. Eigentlich. Ich besteige zwar ein letztes Mal einen Flieger, um zurück nach Europa zu kommen, meine Reise führt mich aber auf Umwegen nach Hause. So radle ich von London hinauf ans Nordkap, der vom Festland aus auf dem Strassenweg nördlichste Punkt Europas und über Osteuropa zurück in den Süden bis in die Schweiz. Dicke Schneeflocken fallen vom Himmel, als ich die Südhang des Gotthards hinauffahre und Ende November 2019 an den Ort zurück gelange, den ich vor über dreieinhalb Jahren für ein unbekanntes Abenteuer verliess. Dazwischen liegen 58’084 Kilometer mit meinem Velo. Bangkok wäre schön gewesen, aber bis Istanbul musste es mindestens sein. Schlussendlich wurde daraus eine unglaublich erlebnisreiche Weltreise.

Dreieinhalb Jahre und 58'000 Kilometer unterwegs

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