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Reisebericht

23.09.2022

Das Nomadenleben auf dem Fahrrad: die Welt erkunden und den Geist öffnen

Marie und Michael Boeckle haben sich entschieden, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. In ihrem Fall heisst das: Sich auf den Sattel schwingen, in die Pedale treten und die Welt entdecken.

Zu zweit im Nirgendwo.

Unser Traum wird zu einem Projekt.

Das Reisen mit dem Fahrrad wird 2015 Teil unseres Lebens. Wir beschliessen, unsere Stadtfahrräder einzupacken, um mit Bahn und Fahrrad Polen zu erkunden, und es ist Liebe auf den ersten Blick. Das Fahrrad nimmt daraufhin immer mehr Platz in unserem Leben ein. Für unsere Alltagswege, unsere Wochenenden, unsere Urlaube und überhaupt. Sobald es darum geht, von A nach B zu kommen, hat das Fahrrad den Vorzug. Wir wollen die Welt um uns herum entdecken, unseren Geist für neue Kulturen öffnen, uns gemeinsam weiterentwickeln, an der frischen Luft leben, auf ganz einfache Weise, indem wir uns auf das Wesentliche konzentrieren. Unser Traum wird dann zu einem Projekt.

Zeitloser Moment in Kappadokien in der Zentraltürkei. Die Region mit markanter Trockenzeit ist vor allem bekannt für ihre Erdpyramiden, die für ein unverkennbares Panorama sorgen.

Unserer Meinung nach gibt es keine Liste mit der idealen Ausrüstung. Jeder Mensch ist einzigartig.

Wir kündigen unsere Jobs, unsere Wohnung, wir sortieren unsere Sachen aus und machen uns für unbestimmte Zeit auf den Weg. Dass wir unseren materiellen Besitz verkleinern, macht uns den Kopf frei. Wir haben das Gefühl, uns dadurch neu besinnen und uns mit unserer Umgebung ohne Schnickschnack verbinden zu können.

Unserer Meinung nach gibt es keine Liste mit der idealen Ausrüstung. Jeder Mensch ist einzigartig. Jeder Radreisende entwickelt seine eigene Lebensweise in dieser Disziplin, die für ihn spezifisch ist. Unsere Grundausrüstung hat sich im Laufe unserer Erfahrungen immer weiter verfeinert. Michael ist der leitende Fahrradmechaniker, Marie kümmert sich um die Apotheke. Ein Uhrmacher und eine Notfallpflegefachfrau sind ein gutes Duo, um sich auf die Strassen der Welt zu begeben.

Unsere Vorbereitung ist einfach. Die Ausrüstung, die man mitnehmen muss, ist relativ ähnlich, egal ob man für eine Woche, ein Jahr oder auf unbestimmte Zeit unterwegs ist. Natürlich entwickeln wir unsere Lebensweise im Laufe der Zeit weiter. Wir passen uns auch an die Länder an, die wir bereisen, und an die Wetterbedingungen, die wir erleben. Unsere Ausrüstung wird sich unterwegs entsprechend verändern.

Auf Entdeckungstour durch Armenien.

Schwierige Umstände an den Grenzen

Am 1. März 2021 beginnen wir unser neues ­Leben. Wir haben das Gefühl, mit unserer Umgebung in Einklang zu stehen und mit unseren Werten zu harmonieren. Das Coronavirus zwingt uns zu Flexibilität, und wir arrangieren uns sehr gut damit. Dies ermöglicht uns, den gegenwärtigen Moment intensiv zu erleben. Wir zielen nicht auf einen bestimmten Ort ab, was dazu führt, dass wir jeden Ort, den wir passieren, mit Freude entdecken können. Wir halten an, wenn wir müde sind oder wenn uns ein Platz gefällt. Wir beleben unseren Geist durch die Begegnungen, die wir machen. Unsere Augen sind voller Staunen über das, was uns umgibt. Diese Philosophie passt gut zum Kontext der weltweiten Pandemie, die jede Planung kompliziert macht. Spontaneität ist angesagt, zu unserer grossen Freude.

Ein traumhafter, aber heisser Sonnenuntergang.

Die Pandemie führt dazu, dass wir uns in Estland in einer Sackgasse wiederfinden. Keine der umliegenden Grenzen ist offen. Wir beschliessen, mehr oder weniger in die entgegengesetzte­ Richtung zu fahren, bis eine Grenze uns den Übergang in ein neues Land ermöglicht. Die ­Ukraine öffnet uns ihre Tore. Unser Zelt ist für die dort herrschende Hitze ungeeignet, und wir besorgen uns ein leichtes, atmungsaktives Sommerzelt. Wir machen uns auf den Weg nach Osten. Vor den Toren Pakistans sind die Reisebedingungen erneut schwierig: Zwischen der Coronavirus-Pandemie und den politischen Situationen (vor allem zwischen Pakistan und Indien) ist das Vorankommen gegen Osten kompliziert.

Wir beschliessen nach reiflicher Überlegung über die klimatischen Bedingungen in den verschiedenen Regionen der Welt und die offenen Grenzen, von Dubai aus ein Stück Afrika zu erkunden. Wir passen unsere Ausrüstung an die besonderen Bedingungen des afrikanischen Kontinents an: eine UV-Lampe zur Aufbereitung von Trinkwasser, ein ultraleichtes, abnehmbares Moskitonetz und ein Schutznetz für den Kopf. Unsere Plastikflaschen werden aus hauptsächlich gesundheitlichen Gründen durch Metallflaschen ersetzt. Ende Februar 2022 fliegen wir nach Kigali in Ruanda.

Ein eindrücklicher Kontrast

Der Kulturschock ist ein zentrales Element unserer Lebensweise. Bisher haben wir vor allem zwei Schlüsselmomente ausgemacht: unsere Ankunft in der Türkei, dem Tor zum Orient, sowie unsere Ankunft in Ruanda, Afrika. In der Türkei, einem mehrheitlich muslimischen Land, wurden unsere Massstäbe über den Haufen geworfen. Unsere Bekanntschaften sind grosszügig, jeden Tag gibt es unzählige spontane Einladungen und Geschenke. Diese Gastfreundschaft und Nächstenliebe findet man auch im Iran. Wir verbringen drei Monate in der Türkei und drei Monate im Iran: ein totales Versinken in dieser Welt und eine einzigartige Lebenserfahrung.

Die Einheimischen wollen sich austauschen und uns ihre Kultur und ihre Realität näherbringen. Unsere Ankunft in Afrika versetzt uns in eine drastisch andere Realität. Ein Austausch ist oft auf die erwartete Spende unsererseits ausgerichtet, also das Gegenteil von dem, was wir seit mehreren Monaten erlebt hatten. Wir müssen uns anpassen, und das ist nicht ganz einfach. Kinder laufen uns kilometerweit hinterher, in der Hoffnung, etwas Süsses oder Wasser zu bekommen. Die Eingewöhnung dauert mehrere Wochen.

Die Brücken in Ruanda sind nicht immer fahrtauglich.

Schon bei unseren ersten Schritten auf ruandischem Boden fällt uns die Bevölkerungsdichte auf: Überall sind Menschen. Wirklich überall. Es ist schwierig zu zelten, ohne von einer Vielzahl von Menschen umgeben zu sein. Bisher hatte sich das Campen als ziemlich einfach erwiesen. Wir erkundigten uns bei anderen Reisenden, die wir teilweise unterwegs getroffen und teilweise über soziale Netzwerke kontaktiert hatten, nach sicheren Orten zum Übernachten. Der Austausch mit der Gemeinschaft der Radreisenden ist eine wertvolle Ressource. Wir unterhalten uns auch mit Einheimischen oder im Ausland lebenden Personen, um die Sitten und Gebräuche und die grundlegenden Sicherheitsregeln kennenzulernen. Unsere Empfindungen und Erfahrungen ergänzen die gesammelten Informationen.

Wir stellen fest, dass Kirchen und Moscheen, wie im Orient, sehr gastfreundliche Orte sind, die uns sehr oft willkommen heissen. Auch das Zelten bei Einheimischen ist angenehm, wenn auch manchmal aufgrund der Sprachbarriere kompliziert. Glücklicherweise können wir uns oft durch Pantomime verständigen.

Afrikanische Strassen mit herrlicher Aussicht.

Den Wert des Veloreisens schätzen

Wir beschliessen, die Anzahl der Länder, die wir in Afrika mit dem Fahrrad entdecken wollen, zu limitieren, um intensiver in die jeweilige Kultur eintauchen zu können. Die Regionen sind gross, die Entfernungen lang und wir wollen kein Streifbild einer grossen Anzahl von Ländern oder einer grossen zurückgelegten Distanz. Wir wollen im Rhythmus der Regionen leben, die wir besuchen, wir wollen die Energien spüren, die Kulturen entdecken und uns Zeit nehmen, um uns zu akklimatisieren.

Nach einer Weile im touristischen Tansania nehmen wir Kurs auf den Südwesten. Wir entdecken wunderbare Regionen, die vom Massentourismus noch unberührt sind. Sambia hält auch eine ganze Reihe von Überraschungen für uns bereit. Der Norden ist touristisch wenig erschlossen, aber voller Schönheiten. Die Kultur ist auch hier stark von Gesang und Tanz geprägt. Mit einer Bevölkerungsdichte von vier Einwohnern pro Quadratkilometer ist der Verkehr in Botswana sehr spärlich, was das Fahren auf den Hauptstrassen zu einem angenehmen Erlebnis macht. Es dauert oft mehrere Tage, um eine Stadt zu erreichen, was uns dazu zwingt, unsere Lebensmittel- und Wasservorräte vorausschauend zu planen. In dem Land, vor allem im Norden, gibt es viele wilde Tiere, sodass wir beim Aufstellen unseres Zeltes sehr vorsichtig sein müssen. Wir wählen vorzugsweise sichere Orte.

Unsere Liebe zum Reisen mit dem Fahrrad wird jeden Tag ein bisschen stärker, genauso wie unsere Verbundenheit.

Zum Zeitpunkt, an dem wir diese Zeilen schreiben, befinden wir uns in Südafrika. Viele Menschen haben uns vor der hohen Kriminalität in diesem Land gewarnt. Unsere ersten Eindrücke sind gut, die Menschen lächeln uns zu, winken uns zu und bieten uns manchmal sogar Getränke an. Wir freuen uns darauf, mehr von diesem riesigen Land zu entdecken, das wahrscheinlich das letzte des afrikanischen Teils unseres Abenteuers sein wird.

Wir sind ein Team und unser Zusammenhalt hilft uns, schwierige Momente zu überstehen. Wir reden viel miteinander. Wir lernen, kulturelle Unterschiede zu akzeptieren und nicht krampfhaft zu versuchen, ihre Bedeutung zu verstehen. Die afrikanische Realität ist anders, die Lebensphilosophie ebenfalls.

Wir sind seit etwa eineinhalb Jahren unterwegs und haben bislang über 28 000 Kilometer zurückgelegt. Unsere Route ist noch nicht zu Ende und wir wissen noch nicht, wohin uns das Fahrrad führen wird. Sicher ist: Unsere Liebe zum Reisen mit dem Fahrrad wird jeden Tag ein bisschen stärker, genauso wie unsere Verbundenheit.

Marie und Michaels Route