Während unserer letzten grösseren Veloreise 2017 haben wir im Norden Norwegens bei 6 °C Tageshöchsttemperatur beschlossen, dass unser nächstes Abenteuer in die Wärme führen wird. Das – und die Pandemie – hat die Länderwahl dieser Reise mitbestimmt. So befinden wir uns nun im Spätfrühling 2021 in der spanischen autonomen Gemeinschaft Kastilien und León und fahren auf dem Jakobsweg Richtung Osten.
Heute geht es von Anfang an bergauf und es ist noch sehr kühl. Nach einer Stunde regnet es, womit es für die Kinder (Matteo, 4 und Nino, 3) noch etwas kälter wird, für uns Eltern (Linda, 38 und Roman, 37) mit den Regenkleidern und dem stetigen Treten wärmer. Nach knapp zwei Stunden erreichen wir El Acebo, das letzte Dorf vor der Passhöhe beim Cruz de Ferro. Es ist elf Uhr, unsere Beine sind schon leicht sauer und wir gönnen uns eine kurze Verschnaufpause. Die Mittagsruhe planen wir indes erst bei einem Unterstand nach der Passhöhe – da ahnen wir allerdings noch nicht, dass wir den verbleibenden Aufstieg mehrheitlich schieben werden.
Zu Beginn des Aufstiegs hoch zum Cruz de Ferro. Als Beifahrer ist es sehr kühl.
Andere Radreisende, die wir in Spanien antreffen, sind teils mit sehr wenig Gepäck unterwegs. «Travel light» war auch für uns immer ein erstrebenswertes Ziel. Auf unserem ersten grossen Veloabenteuer 2013 durch Kanada und Alaska hatten wir für eine Reise von 7000 km zwar verhältnismässig wenig Material im Gepäck, aber mit Essen für bis zu fünf Tagen waren auch dort die Taschen oft randvoll. 2017 durch Nordeuropa (von Amsterdam ans Nordkap) hatten wir schon Matteo (damals 9 Monate) und somit auch unzählige Babyutensilien im Anhänger dabei – sowie Nino, auch wenn noch in Mamas Bauch. Aber auf der aktuellen Tour von Lissabon via Spanien, Italien zurück in die Schweiz sind wir mit den Stufentandems (je 25 kg), den Kindern (zusammen 38 kg) und all unserem Material nochmals weit schwerer. Mittlerweile sind wir deshalb zur Einsicht gekommen: «Travel light» kann man, muss man aber nicht.
Zurück zum Aufstieg: Matteo muss so einiges selbst laufen, was ihn schön warmhält. Nino bleibt seinem Grundsatz treu, nicht zu laufen und nicht zu treten, wenn es steil bergauf geht. Und so schieben wir ihn mitsamt den Fahrrädern die steile, kurvige Strasse hoch, wobei Nino immer mehr friert. Nach 1000 nasskalten Höhenmetern ist es ihm dann definitiv zu viel: Unsere Motivations- und Erklärungsversuche zum Mittreten gehen trotz aller Empathie – die wir am eigenen Limit noch aufbringen – ins Leere. Also kleiden wir Nino mitten im Regen wärmer ein. Nur, die dickere Hose will er partout nicht unter die Regenhose anziehen – herzlich willkommen im Leben eines selbstbestimmten Dreijährigen auf Reisen.
Für die kommende Nacht kündigt die Wettervorhersage Minustemperaturen an. Und wir dachten, Portugal und Spanien seien warm.
Wir wollen ehrlich sein: Wir waren von Beginn weg sehr positiv, dass diese Art von Reisen auch mit Kleinkindern eine tolle Sache werden würde – nur sicher waren wir uns nicht. Unser Motto: Wir versuchen es mit unserer positiven Grundhaltung und wenn wir als Familie nach zwei Wochen total frustriert sind, schmieden wir eben neue Pläne. Denn wer weiss, ob es den Kindern gefällt, mehrere Stunden pro Tag auf dem Fahrrad zu verbringen, nur ganz wenig Spielsachen mit dabei zu haben, bei Wind und Wetter immer draussen zu sein und fast jeden Abend irgendwo anders zu schlafen. Wie sich aber zeigen sollte, war es ein voller Erfolg.
Als optimal haben sich für uns die Stufentandems herausgestellt, da die Kinder alles bestens mitbekommen und wir während der Fahrt sehr gut miteinander sprechen können. Hilfreich war auch, nicht zu stark an die eigenen körperlichen Grenzen zu gehen, sodass wir noch ein wenig Reserve für Unvorhergesehenes hatten. Für die kommende Nacht kündigt die Wettervorhersage Minustemperaturen an (und wir dachten, Portugal und Spanien seien warm). Auch wenn es entlang der Strasse gute Plätze zum wild Campen gibt, entscheiden wir uns deshalb für eine Pilgerherberge. So nehmen wir für heute schlotternd die letzten Kilometer unter die Räder. Immerhin ist es hier in der Provinz León, ein paar tausend Kilometer näher am Äquator, ein Grad wärmer als Ende Sommer in Norwegen.
Überaus freundlich: Ein Bauer hilft uns spontan den kleinen Anstieg hoch.
In der Herberge brennt zu unserem Glück bereits ein Feuer im Kamin, wo wir uns aufwärmen. Eine grosse Portion Pasta stellt dann alle vollends zufrieden. In solchen Fällen dürfen wir von der Pandemie auch profitieren: Statt unzähliger Pilger treffen wir unterwegs kaum jemanden an und damit ist es auch uns als Familie mit Kleinkindern und als Nicht-Pilger möglich, bei Bedarf Unterschlupf in einer der vielen Herbergen zu finden. Nach weiteren hügeligen Kilometern Richtung León sind wir in den nördlichen Teil des kastilischen Hochlands (Meseta Norte) eingedrungen. Unsere Route führt uns durch die wunderschöne Hochebene, entlang vieler Felder und kleinen Dörfern. Die Gegend ist sehr flach und geprägt von Landwirtschaft. So fallen auch die vielen gesammelten Steine und Zweige der Kinder nicht mehr ins Gewicht, welche wir schon seit Tagen durch das Land fahren.
Für einen der wenigen nennenswerten Anstiege dieser Tage springt dann noch spontan ein vorbeifahrender Bauer von seinem Fahrrad und hilft uns mit Schieben. Einfach so, weil er der Überzeugung war, dieser Anstieg sei zu steil für uns. Diese Begegnung ist irgendwie bezeichnend für Spanien: Die Menschen sind extrem hilfsbereit und wir fühlen uns überall sehr willkommen. Unsere Kinder bekommen (zu) häufig Süsses geschenkt, wir in einem kleinen Früchteladen hingegen eine so grosse Schachtel Erdbeeren, die wir fast nicht transportieren können.
Auf schmalen Wanderwegen neben der Strasse: Nicht sehr effizient, aber spassig.
Nach Burgos fahren wir immer mal wieder einer Hauptverkehrsachse entlang. Im Gegensatz zu den letzten Tagen geniessen wir ab jetzt sonniges und sehr warmes Wetter. Es hat hier richtig viel Verkehr. Vorwiegend Lastwagen. Meist fahren wir auf einem separaten Weg direkt neben der eigentlichen Strasse. Wo es nicht möglich ist, sind die Auto- und Lastwagenfahrer sehr rücksichtsvoll, warten teils länger hinter uns und überholen mit viel Abstand.
Die Jungs freut es, so viele Lastwagen zu sehen und wir fragen uns, ob wir diese auch zum Hupen bringen können. So ziehen Nino, Matteo und Roman jeweils am imaginären Hupenseil neben ihren Köpfen. Und siehe da, ein Grossteil der LKW-Fahrer hupen uns entgegen. Linda winkt dann jeweils kräftig, um danke zu sagen. Ja, dank den Kindern erleben und entdecken wir die Welt definitiv aus neuen, zusätzlichen Perspektiven. Nach Logroño verlassen wir den Jakobsweg Richtung Ebrodelta mit Fernziel Barcelona. Kurz vor dem kleinen Dörfchen Bot fahren wir in den südlichsten Zipfel Kataloniens ein – unsere letzte Region Spaniens auf dieser Reise.
Nach dem Zeltaufbau wird das Abendessen vorbereitet, während die Jungs die Umgebung erkunden.
Da startet eine abwechslungsreiche Route entlang der Vía Verde de la Terra Alta. Das ist ein altes Bahntrasse, das zum Fahrradweg umfunktioniert wurde. Der Weg führt uns mitten durchs Gebirge mit vielen Tunneln, Viadukten und sehr schöner Landschaft. Dazu geht es kilometerweit leicht bergab. Nach dem gemütlichen Start in den Tag spekulieren wir darauf, heute noch das Meer zu erreichen. Doch auf den Nachmittag hin kommt immer mehr Gegenwind auf, was an unseren Kräften zehrt. Dann führt uns Google Maps auch noch auf einen sehr steilen Feldweg, wo es uns auch zu zweit nicht gelingt, ein Fahrrad hochzuschieben. Also kehren wir um und fahren einen zusätzlichen Umweg. Irgendwo zwischen Feldern mit Olivenbäumen bleiben wir nach einer Pause sitzen. Wir sind alle müde und erküren den Platz gleich zu unserem Nachtlager.
Das Meer muss noch auf uns warten. Da zeigt sich für uns einer der grösseren Unterschiede gegenüber Fahrradreisen zu zweit: Neben dem hohen Gewicht, das uns sehr langsam macht, mag auch die Jungmannschaft nicht beliebig lange im Sattel sitzen. Das schränkt die Tagesreichweite stark ein. Unsere Strategie – im Zweifelsfall einfach weiterzufahren – können wir somit nicht beliebig anwenden. Stattdessen übernachten wir auch mal an weniger optimalen Orten.
Traumhafte Aussichten bei den Fahrten der Küste entlang.
Den Sprung ins kühle Nass sowie das Glace nehmen wir entlang der Küste fix ins Tagesprogramm auf.
Da wir alles, was wir brauchen, dabeihaben, planen wir dennoch nur einen bis zwei Tage detailliert voraus. Ganz nach dem Motto «Neuer Tag, neues Glück», nehmen wir am nächsten Morgen einen neuen Anlauf, erreichen schon bald die Küste und verbringen bereits die Mittagspause in einer kleinen Bucht am blauen Meer.
Unsere letzten Tage in Spanien kommen immer näher. Es gilt, die Überfahrt nach Italien zu fixieren, eine Unterkunft in Barcelona zu suchen und die Covid-Tests zu organisieren. Wir entscheiden uns, nicht zu hetzen und stattdessen noch ein paar gemütliche Tage am Meer zu verbringen; Ferien vom Reisen sozusagen. So trifft es sich gut, finden wir hier an der Costa Dorada doch reihenweise Campingplätze. Das nutzen wir aus, fahren nur noch rund 30 km pro Tag und geniessen die freie Zeit beim «Bädele und Sändele», und organisieren die nächsten Schritte unserer Reise.
Die Fähre bringt uns von Barcelona nach Civitavecchia, wo uns kurz darauf ein wunderschöner Sonnenuntergang empfängt. Von dort aus folgen wir der Küste Richtung Norden, wobei uns so-fort auffällt: Die italienischen Autofahrer:innen kommen mit viel weniger Platzreserve auf der rechten Seite aus und fühlen sich komfortabel damit, praktisch in jeder Situation zu überholen. Durch unsere kurzfristige Planung landen wir dann auch noch auf einer Schnellstrasse, was eine sehr unangenehme Kombination ist.
Ankunft in Italien – das Rangieren der Lastwagen ist spannend für Gross und Klein.
Wir greifen deshalb auf eine gut bewährte Methode zurück und montieren gelbe Pool-Nudeln am Gepäck, welche die Fahrzeuge auf Distanz halten – und sich zudem gut zum Spielen eignen. So fahren wir auch viel entspannter beim Schiefen Turm von Pisa ein, wo wir auf der Piazza ein Gelato geniessen. Der Schiefe Turm wird Matteo noch lange beschäftigen: «Warum nur haben sie den Turm auf Sand gebaut? Das hätten sie doch wissen sollen, dass das nicht funktioniert!» Was uns auch in Italien erhalten bleibt: Das Wetter ist hervorragend und die Temperaturen steigen täglich auf über 30 °C. Obwohl dauernd im Fahrtwind, tragen die Kinder jetzt meist auch kurze Kleidung und viel Sonnencreme. Den Sprung ins kühle Nass sowie das Glace nehmen wir entlang der Küste fix ins Tagesprogramm auf.
Ans Schlafengehen ist dafür vor Sonnenuntergang nicht mehr zu denken und auch die Gutenachtgeschichte wird draussen erzählt. Die warmen Schlafsäcke, um welche wir vor einem Monat noch sehr froh waren, erscheinen jetzt völlig fehl am Platz. Auf der Höhe von La Spezia verlassen wir die Küste und nehmen den Passo della Cisa Richtung Parma in Angriff. Nach der Passhöhe ist es auch schon Zeit, einen geeigneten Schlafplatz zu suchen. Wir liebäugeln mit einem Platz am Rand eines Feldes. Der Bauer ist in der Nähe und mäht gerade, doch nach kurzer Rückfrage und etwas Geduld dürfen wir auf der frisch gemähten Wiese übernachten.
Der Bauer ist in der Nähe und mäht gerade. Nach kurzer Rückfrage und etwas Geduld dürfen wir auf der frisch gemähten Wiese übernachten.
Am nächsten Morgen fahren bereits früh unzählige Radfahrer an unserem Zelt vorbei, während wir noch bei Kaffee und Frühstück sind. Offenbar ist das ein beliebtes Ausflugsziel für Rennradfahrer. Den ganzen Morgen werden wir bei der Abfahrt von vielen Fahrern überholt, wobei unsere Fahrradkaravane freudig gegrüsst und bestaunt wird. Kurz vor Mittag kommen wir mit Alessandro ins Gespräch, der uns spontan zu sich und seiner Frau Rosemarie nach Hause auf einem Pasta-Teller einlädt. Wir verbringen kurzweilige Stunden in wunderbarer Gesellschaft.
Während wir Eltern uns manchmal Gedanken machen, was wohl andere von uns denken, oder uns darum sorgen, ob alles gut kommt, ist das den Kindern zum Glück völlig egal. Die beiden Jungs finden es super, irgendwo wild zu campen, schliesslich ist zu Hause dort, wo unser Zelt steht. Teilweise wurden auch vermeintlich langweilige Schlafplätze von den Kindern zu den mitunter besten Übernachtungsplätzen ernannt. Die Natur ist manchmal eben doch der beste Spielplatz.
Die beiden Jungs finden es super, irgendwo wild zu campen, schliesslich ist zu Hause dort, wo unser Zelt steht.
Darüber hinaus ist das Vertrauen in die Eltern riesig – und wenn diese glauben, dass es gut kommt, wird es ja wohl so sein. Schliesslich erreichen wir via Po-Ebene und Südtirol die schöne Schweiz, bei wechselhaftem Wetter und deutlich tieferen Temperaturen. Schon fast sind wir wieder zu Hause, wo unsere dreimonatige Reise mit 3200 Kilometern ein Ende finden wird. Wir lernen noch, dass auch die Rhätische Bahn beim Hupen mitmacht – wobei der Zug viel lauter ist als die Lastwagen – und geniessen die letzten Tage beim Überqueren von Ofen-, Albulaund Oberalppass.
Die sinnbildliche Passhöhe unserer Reise ist damit schon fast erreicht. Wie immer, wenn wir oben ankommen, blicken wir zurück: Die Bedenken und Unsicherheiten zu Beginn sind entlang des Weges liegen geblieben. Die Schweissperlen sind getrocknet und zurück bleiben die Glücksgefühle, all die guten Erinnerungen und das gemeinsam Erlebte. Wir sind sehr dankbar, dass wir dieses Familienabenteuer erleben durften und unheimlich froh, dass wir uns dafür entschieden haben. Dieses Gefühl schliessen wir in unsere Herzen ein, erinnern uns daran und irgendwann wird es uns dazu bewegen, einen nächsten Berg zu suchen.
Die Schweissperlen sind getrocknet und zurück bleiben die Glücksgefühle, all die guten Erinnerungen und das gemeinsam Erlebte.
Der letzte grosse Aufstieg dieser Reise. Bei Ankunft auf dem Oberalppass werden wir von Restaurantgästen spontan bejubelt.
Die Route durch Portugal und Spanien.
Distanz: 1970 km Höhenmeter: 13 500 Dauer: 166 Stunden
Italien - Schweiz
Die Route von Italien zurück in die Schweiz.
Distanz: 1230 km Höhenmeter: 9500 Dauer: 100 Stunden
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